Mathematik/ Fachbeiträge/

Logistische Wachstumsdynamik und Chaos
Materialien für eine mathem. Unterrichtseinheit
für die Jahrgangsstufe 10
von Dr. E. Reinartz
A. Statt einer systematischen Einführung
B. Unterrichtsprojekte
C. Kurzbeschreibung der Inhalte und Materialien
einer Unterrichtsreihe für die Jahrgangsstufe 10
D. Abstract für englischsprachige Interessenten
E. Die ausgearbeitete Unterrichtsreihe über
"Logistische Wachstums Dynamik und Chaos
für die Jahrgangsstufe 10" (74 Seiten)

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Nichtlineare Dynamik
und
Chaos
 

 
 

A.- Statt einer systematischen Einführung

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"Von Mandelbroten und Feigenbäumen -

Mathematik zwischen Ordnung und Chaos"
..........." man muß noch Chaos in sich haben, um
....................einen tanzenden Stern gebären zu können "
............................F.Nietzsche, Zarathustras Vorrede

 

 

Für Mathematiker ist die Situation recht ungewohnt, daß ihrer Arbeit und ihrem Fach in der Öffentlichkeit ein so großes Interesse entgegengebracht wird, wie es in den letzten Jahren geschehen ist. Die rasche Entwicklung in der mathematischen Forschung auf dem Gebiet der nichtlinearen Dynamik, die ohne den Einsatz von Computern nicht denkbar wäre, und die Entdeckung mathematischer Strukturen und Zusammenhänge, die sich in schönen bunten Computerbildern von bizarrer Schönheit darstellen lassen, haben der Chaostheorie bzw. der Flut von populärwissenschaftlichen Darstellungen in den Medien, aber auch bei Schülern und beim breiten Publikum eine hohe Aktualität beschert.

 

Die Chaostheorie wirft Fragen auf, die von grundsätzlichem Interesse sind: Gibt es Strukturen, Muster und Prozesse, die sich in allen Erscheinungen der Natur, der Gesellschaft, der Kultur in gleicher Weise widerspiegeln? Wie entsteht aus Ordnung Chaos und umgekehrt? Was sind die treibenden Faktoren für Veränderungen? Wie, wann und warum kippt ein ordentlich funktionierendes System um? Wie muß das neue Denken aussehen, um diese Veränderungen zu begreifen und die Entwicklung auf den richtigen Weg zu bringen und weiterzuführen?

 

Exotisch anmutende Fachtermini wie Mandelbrotmenge, Juliamenge, Feigenbaumdiagramm, Apfelmännchen, Fraktal, seltsamer Attraktor usw. tun ein übriges, um das fast modische Interesse an nichtlinearer Dynamik und Chaos wachzuhalten. Die besondere Art des nichtlinearen Denkens und die fächerübergreifenden neuen Denkansätze, die mittlerweile in fast allen Wissenschaftsbereichen zu beobachten sind, rütteln tief an den Grundlagen unseres wissenschaftlichen Weltbildes. Gewisse Entwicklungen machen aber durchaus den Eindruck einer flüchtigen Modeerscheinung und werden entsprechend schnell wieder von der Bildfläche verschwinden. Was ist nun dran an der Chaostheorie und was geht sie uns an?

 

Die Entdeckung des Chaos

Pionierarbeit leistete schon vor gut hundert Jahren der große französische Mathematiker Henri Poincaré in mehreren Abhandlungen über das Dreikörperproblem in der Himmelsmechanik(1889-1899). Poincarés Arbeiten mündeten in nichts geringerem als der Konsequenz, die klassischen Grundlagen des Determinismus in der Newtonschen Mechanik in Frage zu stellen, ein seinerzeit unerhörter Vorgang. Es ist verständlich, daß Poincaré nicht bereit war, sämtliche Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aus seinen Arbeiten ergaben und weiter Ideen zu verfolgen, die in diametralem Gegensatz zur damals herrschenden Auffassung vom strengen Determinismus in der klassischen Mechanik standen(eine Situation, die in der Wissenschaft gar nicht so selten ist; man denke z.B. nur an C.F. Gauß und die Entdeckung der Nichteuklidischen Geometrie oder die Entdeckung des Irrationalen durch die Pythagoreer). Anfang der sechziger Jahre stieß dann der amerikanische Metereologe E. Lorenz beim Versuch, auf dem Computer Wetterprognosen zu erzeugen, auf das verblüffende Resultat, daß winzige Änderungen der Anfangsbedingungen in seinem System von drei einfachen nichtlinearen Differentialgleichungen zu sprunghaften(also instabilen) Änderungen in den Lösungen, die einen gewissen Teilzustand des Wetters beschrieben, führten. Das Resultat war insofern verblüffend, weil aus zweifelsfrei deterministischen Gleichungen kein vorhersagbares bzw. berechenbares Ergebnis ableitbar war. Konkret bedeutete das: dem Wetter liegen physikalische Prozesse zugrunde, die prinzipiell unberechenbar sind, d.h. die Unmöglichkeit(auch mit potentiell denkbaren Supercomputern) Langfristprognosen für die Entwicklung der Atmosphäre zu erstellen, ist systembedingt und nicht kenntnisbedingt. Die Physiker nennen solche unberechenbaren Zustände an sich deterministischer Systeme Deterministisches Chaos, und man könnte vereinfachend sagen, daß ein deterministisches System chaotisch ist, wenn niemand vorhersagen kann, wie es sich über längere Zeit verhalten wird.

 

Ab etwa 1980 hat sich durch die Chaosforschung ein neues Paradigma in den Naturwissenschaften (und nicht nur dort) etabliert. Viele Phänomene sind trotz der Möglichkeit einer strengen und deterministischen Modellierung prinzipiell nicht langfristig prognostizierbar. Systeme mit dieser Eigenschaft sind aber entgegen unserer am mechanistischen Weltbild geschulten Auffassung in der Biologie, Medizin, Astronomie, Ökonomie usw. die Regel und nicht die Ausnahme. Für solche Systeme ist eine extrem sensitive Abhängigkeit des Systemverhaltens von den Anfangsbedingungen charakteristisch; diese Anfangsbedingungen liegen aus prinzipiellen Gründen(Meßfehler, begrenzte Stellenzahl des Computers, Unschärferelation usw.) selten exakt vor. Es können deshalb nach relativ kurzer Zeit in einem solchen System keinerlei verläßliche Aussagen über den nachfolgenden Zustand gemacht werden. Kurzum: Unsere Welt ist im Prinzip nicht berechenbar.

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Wissen wir eigentlich, was wir tun?

Chaosforschung wird in vielen verschiedenen Wissenschaftsgebieten betrieben: Turbulenz; Konvektionsströme und Zirkulation der Atmosphäre, Klimamodelle, oszillierende chemische Reaktionen, Populations -und Ökosysteme, Rhythmik der Herztätigkeit, Videorückkopplung, Wirtschaftssysteme, politische Systeme usw..In all diesen Bereichen wird die Dynamik des Systems durch nichtlineare Rückkopplung bestimmt; die mathematische Modellierung solcher Systeme führt deshalb im zeitdiskreten Fall auf nichtlineare Rekursionsgleichungen. Grundlegende Einsichten in das Chaosphänomen - und darin liegt der eigentliche Schlüssel zum Verständnis - lassen sich nur über die mathematische Analyse linearer und nichtlinearer Dynamik gewinnen. Allerdings sind nichtlineare Systeme mathematisch i.a. schwer in den Griff zu kriegen.

 

In den letzten Jahren hat sich die Welt als weitgehend nichtlinear herausgestellt; ein krasser Gegensatz zu unserer vertrauten linearen Denkweise, die die Welt i.a. als die Summe ihrer Teile begreift. Die nichtlineare Betrachtungsweise faßt die Welt als ein vernetztes System von Größen auf, die nichtlinear verkoppelt sind und deren Dynamik - anders als in linearen Systemen - häufig eine außerordentlich komplexe Struktur aufweist, die durch eine spezifische innere Verwobenheit von Chaos und Ordnung charakterisiert werden kann. Merkmale von Chaos treten bei fast allen komplexen Systemen mit hohem Vernetzungsgrad auf; dabei sind hochgradig vernetzte Systeme in Natur und Umwelt die Regel. Die oben schon angedeutete extreme Sensitivität gegenüber den Anfangsbedingungen hat in solchen Systemen zur Folge, daß das in linearen Systemen gültige starke Kausalitätsprinzip("Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen") völlig aufgehoben ist(vgl. Abb. 3); damit geht die Vorhersagbarkeit verloren. Es sei noch einmal deutlich herausgestellt: Nur in nichtlinearen Systemen ist chaotisches Verhalten möglich!

 

Bedrückend vor diesem Hintergrund sind die u. U. negativen Folgen menschlichen Verhaltens für das Öko -und Klimasystem der Erde. So könnte möglicherweise der unter anderem durch Ausbeutung fossiler Energieträger verursachte Treibhauseffekt die Parameter unseres Klimasystems so verändern, daß die bisher stabile nichtlineare Dynamik in nicht vorhersagbares Verhalten bzw. eine Bifurkation umschlägt (sog. "Umkippen des Systems"). Da aber unsere Kenntnisse über die wahren Systemparameter ziemlich lückenhaft sind, können wir die Folgen von Umweltbelastungen in unserem Klimasystem nur unzureichend abschätzen. Wissen wir eigentlich, was wir tun? Die Nichtlinearität in vielen Bereichen der Natur und Umwelt zwingt uns - auch in der Schule - zu veränderten Denkansätzen und zu einem grundlegend anderen Umgang mit der Natur; sie zwingt uns weiterhin zur Revision unserer reduktionistischen Wissenschaftsauffassung.

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Chaos in der Schule

Es gibt gute Gründe, sich auch in der Schule mit grundlegenden Aspekten der Chaostheorie zu beschäftigen und damit den zweiten Teil der eingangs gestellten Frage("Was geht sie uns an?") positiv zu beantworten.

Eine Bemerkung am Rande: Es ist anzunehmen, daß ein derart kompliziertes Gebilde wie die Institution Schule bestimmt wird von komplexen nichtlinearen Wechselwirkungen zwischen Lehrern, Schul -und Kultusbürokratie usw.. Glücklicherweise haben nichtlineare Systeme - auch im Fall von deterministischem Chaos - i.a. die Fähigkeit zur Selbstorganisation, d.h. zur selbständigen Herausbildung von neuen, qualitativ hochstehenden Strukturen. Eine Chance für die Schule?

 

Die Chaostheorie hat eine veränderte Betrachtungsweise der Dinge bewirkt und unseren Blick auf interdisziplinäre Phänomene gelenkt, die sich bisher einer rationalen und numerischen Beschreibung weitgehend entzogen haben; sie hat unser Welt -und Wissenschaftsbild umgewandelt. Die komplexen Strukturen in allen Bereichen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft erfordern für unseren Unterricht und unsere SchülerInnen in zunehmendem Maße Denken in fächerübergreifenden, nichtlinear vernetzten Zusammenhängen. So könnte zum Beispiel die Auseinandersetzung mit Umwelt-, Ökologie- und Klimaproblemen vor dem Hintergrund der potentiellen Instabilität strukturell ähnlicher komplexer Systeme geführt werden. Durch die Analyse einer einzigen nichtlinearen Gleichung lassen sich den SchülerInnen - bei Anwendung des graphischen Iterationsverfahrens sogar schon in der Sekundarstufe I - wesentliche Sachverhalte nichtlinearer Dynamik vermitteln und Konsequenzen für ein angemessenes Verhalten im Umgang mit Umwelt und Natur einsichtig machen; also eine Erziehung zur globalen Verantwortung. Es sei besonders vermerkt, daß ein einführender Unterricht, der sich nur auf die Vermittlung der Grundideen nichtlinearer Dynamik beschränken will, nicht unbedingt auf Computer angewiesen ist (Graphisches Iterieren per Hand!); allerdings macht "experimentelle Mathematik am Computer" den SchülerInnen noch mehr Spaß und motiviert sie beständig zu neuen und vor allem eigenen "Reisen durch das Chaos"(entdeckendes Lernen!).

 

Aus innermathematischer Sicht benutzt die Chaostheorie im zeitdiskreten Fall die fundamentale Idee der Iteration: Die Idee der Iteration könnte in Zukunft neben anderen Grundbegriffen als weiterer Stützpfeiler des Mathematikunterrichts dienen; sie könnte von den J-Stufen 1 bis 13 den Mathematikunterricht durchdringen, denn "das Zählen selbst ist schon eine Iteration" (W. Sternemann, Dülmen 1995). Die Idee der Iteration paßt zum Computer, denn niemand kann besser iterieren als er.

 

Statt linearem Denken, das uns von unseren etablierten Institutionen auf politischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Ebene so vertraut ist, ist vernetztes, nichtlineares Denken in komplexen Zusammenhängen das Gebot der Stunde. Wir sollten keine Gelegenheit auslassen, unsere SchülerInnen darauf hinzuweisen und sie auf das heute und vor allem in Zukunft erforderliche Begreifen komplexer Sichtweisen vorbereiten.

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Die Mandelbrotmenge("Apfelmännchen"): original(1980) und zeitgemäße Wiedergabe(Algorithmus mit größerer Genauigkeit)

 

 

(Auszüge aus einem Aufsatz in der Festschrift zur 100-Jahrfeier des .Leibniz-Gymnasiums in Düsseldorf, Juli 1996, S. 152-161)

....... Dr. Eckhard Reinartz, Leibniz-Gymnasium, Düsseldorf

 

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B.- Unterrichtsprojekte

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In einer Projektwoche im Schuljahr 1996 am Leibniz-Gymnasium in Düsseldorf haben wir uns in einer Schülerarbeitsgruppe mit grundlegenden Sichtweisen der Chaostheorie und ihrer Bedeutung für das Verständnis klimatologischer und ökologischer Zusammenhänge beschäftigt; Problemstellungen aus der fraktalen Geometrie wurden in das Projekt mit einbezogen. Der Projektablauf und die Ergebnisse haben gezeigt, daß man SchülerInnen durchaus auf interessante Art und Weise für umweltbewußtes Verhalten und Denken sensibilisieren kann. Im Jahr 1997 haben wir in einem fächerübergreifenden Projekt versucht, schon mit SchülerInnen der Jahrgangsstufe 10 elementare Sichtweisen der Chaostheorie und der Umwelt –bzw. Klimaproblematik herauszuarbeiten. Geplant ist für die Zukunft, das Thema Chaostheorie und Umweltproblematik so aufzubereiten, daß es im normalen Mathematik-Pflichtunterricht der Jahrgangsstufe 10 (auch fächerübergreifend) zeitlich angemessen "untergebracht" werden kann. Die weiter unten vorgelegten Unterrichtsmaterialien verstehen sich als ein erster Schritt in diese Richtung.

 

Daß die Klimaproblematik bzw. die Sensitivität von gewissen Dynamischen Systemen außerordentlich wichtig und hochaktuell ist, zeigt u.a. ein Gespräch, daß DER SPIEGEL (8/1994; S. 192-196) mit Prof. Hartmut Graßl vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie im Jahre 1994 führte. Graßl, Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages("Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre"), führte u.a. aus:

SPIEGEL: Die kritischen Schwellen, an dem das Klima gleichsam umkippt, lassen sich nicht vorherbestimmen?

Graßl: Das sind die sogenannten Sprungstellen, wir wissen nicht, wo sie sind. Wir können nicht mal sagen, ob wir nicht einen solchen Umschwung bereits um das Jahr 1970 ge triggert haben, und zwar mit den Spurengasen, die bis dahin angehäuft waren. Mit dieser Unsicherheit leben wir....................

SPIEGEL: Wie ist die klimatische Ruhephase der letzten 10000 Jahre, seit dem Ende der letzten Eiszeit, zu erklären?

Graßl: Wir wissen es nicht. Aber wenn das Klimasystem so labil ist, dann ist es äußerst gefährlich, es zu stören. Das Gebot, Vorsorge zu treffen, also den zusätzlichen Treib hauseffekt einzudämmen, wird dann besonders dringlich.......

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Die Klimaproblematik ist eine der großen Herausforderungen für unsere Generation und sie dürfte es auch noch für die kommende Generation bleiben; schon deshalb darf Schule bzw. jedes in der Schule vetretene Fach diese Problematik im Unterricht nicht ausklammern.
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einer Unterrichtsreihe für die Jahrgangsstufe 10